Kraft der Stille
Susanne Tunn
Wer einmal von einem Berggipfel in den Alpen in die Ferne geschaut hat, kennt die Stille des Steins. Wer einmal an einer Steilküste zugesehen hat, wie die Wellen an die Klippen schlagen, kennt die Kraft des Steins. Susanne Tunn kondensiert in ihren zum Teil monumentalen Werken aus Stein diese Kraft der Stille und erlaubt dem Stein, seine eigene Geschichte zu erzählen.
Die Steinzylinder im Erdgeschoss des Museums erinnern vielleicht an Säulenfragmente eines gigantischen antiken Tempels oder behauene Findlinge. Doch sie wurden mit großer maschineller Kraft dem Berg abgerungen. Sie sind – jeder Stein für sich mit seiner eigenen Persönlichkeit – zu Objekten geworden, die uns zu einer Interaktion einladen. In den Werken kommen Geologie, Archäologie und unsere individuelle Psychologie der Wahrnehmung zusammen. In Anerkennung der Natur geht es ihr darum, das Wesen des Steins zu erkennen und dieses frei zu legen. Während es über Jahrhunderte in der männlich dominierten Steinskulptur eher um den heroischen Triumph des Bildhauers ging, um sein Kräftemessen mit der Materie und die Überwindung ihres Widerstands schließlich als Bezwingung der rohen Natur gefeiert wurde, so umfasst das heutige Kunstverständnis auch die Güte und die Kraft der Materie an sich. Susanne Tunn eröffnet uns diese in ihren Werken und somit auch einen wichtigen weiblichen Kosmos der Skulptur und den Umgang mit dem Objekt im Raum.
Auch in dieser Arbeit verbinden sich Fragment und Ganzheit, Freisetzen und Erinnern. Diese Doppelheit ist vielleicht ein Leitfaden in das Werk von Susanne Tunn hinein.
- Dorothée Bauerle-Willert
Während im Erdgeschoss das dunkle Blau-Grau des Labrador-Steins aus Norwegen und des Krastaler Marmors aus Österreich vorherrscht, präsentiert Susanne Tunn im Obergeschoss zum ersten Mal den gesamten Zyklus Die Große Melancholie. Wie in einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung sind die hellen Skulpturen aus andalusischem Macael Marmor aufgereiht, in komplexen, geometrischen Formen, die an das Schleifen von Diamanten erinnern. Susanne Tunn hat diesen Werkzyklus über 30 Jahre hinweg von 1990 bis 2022 in Anlehnung an Albrecht Dürers berühmte Melencolia I geschaffen.
Mit den aus Zinn gefertigten Arbeiten im Obergeschoss bringt uns Tunn ins Jahr 2015, als sie die Fugen des Bodens im Dominikanerkloster in Osnabrück mit reinem, flüssigem Zinn ausgoss. Das regelmäßige Raster der Bodenfugen wurde zur einmaligen Form, wie ein Fingerabdruck, und wölbt sich nun über den Boden, als wollte es sich aus der Restriktion der eigenen Haut befreien. Die feinen und sensiblen Arbeiten auf Papier geben im Obergeschoss einen Einblick in das umfangreiche und eigenständige grafische Werk von Susanne Tunn.
Während einige ihrer Skulpturen in Gewicht und Masse, ähnlich wie bei Alf Lechner, die Grenzen des Machbaren ausloten, so führen uns diese mit Tusche und Bleistift gefertigten Werke auf Papier, wie Miniaturen in den gedanklichen Kosmos der Bildhauerin. Sie erlauben Transparenz und Leichtigkeit und lassen die grafischen Objekte schwerelos tanzen.
Susanne Tunn verband mit Alf Lechner eine über 30 Jahre währende Künstlerfreundschaft. Geprägt von einem gemeinsamen Verständnis der Kraft der Natur, der Sensibilität von archaischem Material, von Reduktion und der Balance von Masse und Raum, war es der ausdrückliche Wunsch Alf Lechners, ihr auch nach der Präsentation von Perlen aus Stein im Jahr 2006 eine umfassende Werkschau zu ermöglichen. Es ist uns daher eine besondere Freude, diesem Wunsch nun entsprechen zu können.
Kunst enthüllt und schafft, und sie verbirgt, ist Ordnung und Chaos gleichzeitig. Was schön ist, entspricht und widerspricht den Betrachtenden. Diese Spannung ist es, die Susanne Tunn streng aufrechterhält.
- Jörg Mertin